Hubert Schierl
Wir sind mal wieder in Siebenbürgen, Anne und ich. Wir schreiben 2005, es ist September und damit beste Traubenlesezeit. Gern fahren wir dorthin, wenn der große Trubel vorbei ist und wir die wenigen Martinsdorfer, die es noch gibt, für uns haben können. Dann kann man in Ruhe mal über etwas reden. Beileibe nicht nur über vergangene Dinge, nein, wir wollen wissen, wie es den Leuten aktuell geht und wo wir eventuell helfend eingreifen können. Oft sind es ja die ganz kleinen Dinge, an die keiner denkt, die aber gemacht werden müssen. Und wenn es mal ein paar Tabletten sind, die da gerade jemand braucht. Nun ja, es ist wieder recht schön, das Wetter stimmt auch und wir fühlen uns wohl in Annes alter Heimat.
Am Sonntag soll Gottesdienst sein in der Martinsdorfer Kirche und es soll einePfarrerin aus Mediasch kommen. Martinsdorf hat ja schon lange keinen Pfarrer mehr, die Strukturen haben sich radikal geändert, alles geschieht nur noch über Mediasch und die dortigen Pfarrer haben alle Hände voll zu tun, die vielen Landgemeinden regelmäßig zu betreuen. Aber mit ganz großer Treue und mit ganz viel persönlichem Engagement schaffen es die wenigen Mitarbeiter immer wieder, dass sie alle Gemeindeglieder sammeln und am Gottesdienst teilhaben lassen. So bringt die Pfarrerin eben einfach auch Gemeindeglieder aus Rosch mit nach Martinsdorf und ganz selbstverständlich lassen die Leute sich das gefallen. Man hat sich eingefunden in die Diaspora-Situation. Etwa 30 Mitglieder zählt die Evangelische Kirchgemeinde A.B. in Martinsdorf noch. Für uns eine Situation, die wir nur schwer verkraften können. Haben wir doch diesen Ort noch immer als eine blühende sächsische Gemeinde in unserem Gedächtnis................
Und diese Bilder gehen nur ganz schwer wieder aus dem Kopf. Nun, es ist, wie es ist, wir treffen uns - (wie immer schon vor dem Glockenläuten ) - vor dem Gottesdienst, stehen noch ein wenig auf dem Schulhof vor der Kirche herum und warten, wer da kommen wird – da fällt uns ein kleines Mädchen auf. Anderthalb Jahre mag die Kleine alt sein. Sie ist sehr hübsch zurecht gemacht, ein niedliches Kind eben. Etwas abseits hält sich ein junger Mann auf, offensichtlich der Vater, denn er ruft sie manchmal beim Namen : „Sibylle“
Wir denken uns nichts dabei und gehen in die Kirche, der Gottesdienst soll nun beginnen. Und da geschieht etwas sehr sonderbares: Dieses kleine Mädchen, von dem wir inzwischen wissen, dass es Sibylle heißt, schlängelt sich durch die Kirchenbänke bis hin zu Anne, bleibt kurz stehen und wartet, was geschieht. Freilich kann Anne nicht anders, als das kleine Wesen aufzunehmen und auf ihren Schoß zu setzen. Und da sitzt sie nun, die kleine Hübsche, schaut munter um sich, blättert im Gesangbuch und ist ein wahres „Musterkind“ im Gottesdienst. Derweil hält die Frau Pfarrerin ihre Predigt – später erfahren wir, dass es eine ihrer ersten in Martinsdorf war – und der Gottesdienst geht zu Ende. Immer noch sitzt das kleine Mädchen auf Annes Schoß und will sich gar nicht trennen. Aber wir müssen die Kirche irgendwann mal verlassen und ich sage zu Anne:
„Entweder haben wir jetzt 50 Euro oder wir haben ein Problem“- worauf Anne meint:
„50 Euro haben wir aber nicht.......!!!“ Und das ist der Anfang einer langen Geschichte, die wir von nun an gemeinsam mit Sibylle schreiben werden.
Und nach und nach erfahren wir die wahre Geschichte: Da müssen wir zurück in das Jahr 1988. Helmut – der spätere Vater von Sibylle – ist ein ganz junger Mann und er will in die
Freiheit. Bei seiner Tätigkeit als Schneider in einer Hermannstädter Firma, die für den Westen arbeitet, stellt er immer wieder fest, wie gut die Manager aus dem Westen gekleidet
sind und wie sie großzügig mit Geld umgehen können. Dabei ist er selber ziemlich arm und seine Familie in Rosch ist noch ärmer. Was liegt also näher für den jungen Mann, als dem vermeintlichen Reichtum nachzureisen. Und so liegt der Gedanke nahe: „Da, wo es das Geld gibt, willst du auch hin...“
Es ist der 23. August 1988, der rumänische Nationalfeiertag. An eben diesem Tag haben die rumänischen Truppen im Jahr 1944 die Front gewechselt und waren von den Deutschen zu den Russen übergewechselt, haben die Karabiner umgedreht, haben ihren König in die Wüste geschickt und feiern diesen Tag nunmehr als den Tag der „Befreiung“. Es ist der größte Nationalfeiertag in Rumänien, Ceausescu hat Jubel angesagt und befohlen........
Diesen Tag wählt sich Helmut, um heimlich über die Grenze nach Jugoslawien zu verschwinden. Er meint, dass die rumänischen Grenzbeamten an diesem Tag sowieso nur feiern und saufen und er im Schatten dieser Feierlichkeiten ungehindert über die Donau nach Serbien kommen könnte. So versucht er es halt. Ohne Landkarte und Ortskenntnis und vor allem ohne die Fähigkeit zum Schwimmen. Das hat er nie gelernt. Er wird natürlich „geschnappt“. Es gibt auch in Rumänien genügend „Grenzhelfer“, die ganz genau darauf achten, wer im Grenzgebiet sein darf und wer nicht. Die Stunden nach seiner Festnahme sind schrecklich. Zunächst fesselt man ihn irgendwo in einer Grenzwache an ein Bettgestell, dann kommt die „Securitate“ und nimmt ihn mit. Zunächst hat er keine Ahnung, wo er sich befindet, wird nur immer wieder verhört und geprügelt und die Securitate – Leute machen es besonders infam: Sie lassen ihn von Mitgefangenen verhauen, von Leuten also, die es auch versucht hatten, über die Grenze zu kommen oder noch schlimmere Dinge auf ihrem Kerbholz haben, richtige Verbrecher, vielleicht auch Mörder. Sein persönlicher Nachteil: Er ist Deutscher (Siebenbürger Sachse) und deswegen bei den Rumänen schon von Natur aus ziemlich mies angesehen. Man beschimpft ihn als „Hitleristen“, der Hass ist zügellos und als er das nicht möchte, gibt es erneut Prügel........
Am Ende landet er in Jilava im Securitate-Gefängnis und muss dort bleiben, bis man ihn, schwer geschädigt, nach Hause entlässt. Dort müssen erst einmal seine zerschundenen Füße und der geprügelte Rücken behandelt werden, aber um seine zerschundene Seele kümmert sich niemand...............
So ist der Weg in die Psychiatrische Klinik Hermannstadt nicht sehr weit. Immer wieder muss er da behandelt werden, aber keiner hilft ihm wirklich, das Trauma seiner Haft zu verarbeiten. Im Gegenteil: Die „Ärzte“ testen an ihm irgendwelche Psychopharmaka im Auftrag westlicher Firmen. Selbst während und gerade nach der „Wende“ ist er noch immer das Versuchskaninchen im Auftrag internationaler Pharmakonzerne. Keiner sagt es ihm, aber irgendwie spürt er es doch. So mag es für ihn ein Segen sein, dass er Christina kennen lernt, die später die Mutter von Sibylle sein wird, eben dem Mädchen, das wir in der Kirche von Martinsdorf kennen lernen. Es hätte alles wohl auch sehr schön sein können. Wenn nicht die „Mutter“ Christina ihr Baby im Alter von gerade mal 6 Monaten einfach im Stich gelassen und sich unbekannten Ortes entfernt hätte. (Später werden wir erfahren, dass es da noch andere Kinder gibt, die sie samt und sonders der staatlichen Obhut übergeben hatte.) Nun ist er allein mit seinem Kind und mit seiner Behinderung. Lange kann das nicht gut gehen und so ist es ein Segen, dass die Hausärztin, die gleich nebenan ihre Praxis hat, sich der beiden annimmt. Von Stund`an wird Sibylle nun frühmorgens aus dem Fenster der Wohnung ihres Vaters gereicht, wird bei der Ärztin gewaschen, versorgt, mit einem Frühstück versehen und von der Sprechstundenhilfe per Fahrrad und mit Hilfe einer Obstklappkiste in den Kindergarten im Nachbarort gefahren. Helmut kann derweil seinen Cocktail an Psychopharmaka ausschlafen.............
So geht das eine gute Weile, bis wir wieder da sind und gemeinsam mit der Ärztin festlegen, dass es so nicht wirklich weiter gehen kann. Denn: Was wäre wenn............
...der Helmut mal wirklich austickt ???????????????
...er seine Pflichten grob übersieht ????????????????
...er sein Kind nicht mehr ernähren kann ??????????
Von der Zeit an wohnt Sibylle in der Arztpraxis und Helmut muss damit leben lernen. Für das Kind ist es gut. Wir haben einen Vertrag gemacht. Und wir geben uns alle Mühe, dafür zu sorgen, dass es dem kleinen Mädchen an nichts fehlt. Immer wieder schicken wir mit dem Buspaketdienst von „Atlassib“ Pakete mit Nahrungsmitteln und Kleidung für die kleine Sibylle und freuen uns, dass wir an ihrer Entwicklung Anteil haben dürfen. So geht das über die Zeit. Irgendwann kommt Helmut mit seiner Tochter über Weihnachten zu uns. Sibylle ist inzwischen drei Jahre alt und spricht kein Wort deutsch.
Da kommen wir auf die Idee, sie nach Weihnachten im Kindergarten unserer Enkelkinder Elisabeth und Maximilian für eine Woche anzumelden. Und siehe da, bereits nach zwei, drei Tagen kann selbst ich mich mit diesem Kind unterhalten. Sie kann es !! Wahnsinn, wie schnell Kinder lernen !!!!!!!!!!!!!
Ab diesem Zeitpunkt steht für uns fest: Sibylle muss irgendwann mal auf eine deutsche Schule gehen. Wir wissen, dass es solche in Rumänien gibt, aber wir wissen nicht genau wo. Und so ist es wohl Fügung, dass ich eines schönen Tages in Martinsdorf bei unserer lieben Freundin Hanni zum Kaffee sitze und mir gegenüber eine Frau, die ich für eine Urlauberin halte. „Nein“, sagt sie, „ich bin Grundschullehrerin in Alzen“, das ist eine Gemeinde im Harbachtal, etwa 20 Kilometer von Martinsdorf und Rosch entfernt. Nun ist natürlich klar, was wir wollen: Wir möchten Sibylle auf diese deutsche Schule schicken und zu genau dieser Lehrerin, Frau Müller, die sich der Kinder in besonderer Weise annimmt. Und siehe da, es gelingt uns. Sibylle wird wenige Tage vor ihrem 6. Geburtstag in Alzen in die erste Klasse der deutschen Abteilung der Grundschule eingeschult. Was für eine Freude!!! Von da an sind Sibylle und Frau Müller ein eingeschworenes Team!
So geht das bis zum Abschluss der 4. Klasse. In den Sommerferien ist Sibylle nun auch ohne den Vater bei uns und wir haben mit all den anderen Enkelkindern recht viel Spaß. Freilich gibt es in Hermannstadt immer wieder Zoff mit dem Jugendamt. Plötzlich soll die Mutter, die ihr Kind einfach im Stich gelassen hatte, wieder gewisse Rechte erhalten, keiner weiß wirklich was gehauen und gestochen ist und Anne verbringt eine geschlagene Woche auf dem rumänischen Jugendamt, um dafür zu streiten, dass Sibylle bei der Ärztin, Tante Ileana, bleiben darf. Es sind schlimme Stunden und Urlaub wäre ganz etwas anderes... Am Ende dürfen wir sie wieder mitnehmen zu uns nach Deutschland, wo sie sich doch auch wie zuhause fühlt und ein wenig von dem ganzen Stress erholen kann. Unsere Enkelkinder sorgen immer wieder dafür. Sie haben einander einfach lieb.