Nun wird es aber endlich Zeit, zum Kern des Pudels zu kommen. Da war doch noch was – ach ja, das „Fräulein Anneliese“ hatte mich nach Martinsdorf eingeladen....... Freilich hatten wir inzwischen das „Du“ schon brieflich vereinbart.
Hans erbietet sich natürlich, mir als ortskundiger Reiseleiter auf der Fahrt nach dort beizustehen und auch die geplanten Tage dort mit mir gemeinsam zu verbringen.
So geht es nun bei strahlendem Sonnenschein und glühender Hitze mit dem Bus zunächst nach Mediasch und dann am späten Nachmittag weiter nach Martinsdorf.
Wenn mir einer hätte sagen wollen, wie lange man für ca. 50 km Busfahrt brauchen kann – ich hätte es nicht geglaubt. Bis nach Marktschelken ist ja auch alles schön und gut. Die Straße ist asphaltiert, der Bus schnurrt vor sich hin, obwohl es schon abenteuerlich ausschaut, wenn die seitlichen Heckklappen eines von hinten angetriebenen halbantiken Linienbusses im Fahrtwind schaukeln. Später haben wir diese seltsamen Vehikel „Marke Radfahrertod“ getauft. Die letzten 20 km gehen dann über unbefestigte Schotter-Sand-Piste das Kaltbachtal hinauf. Ich denke, der Bus zieht eine Staubwolke von etwa einem halben Kilometer hinter sich her und ist bestimmt schon eine Viertelstunde vor Ankunft auf der jeweiligen Station zu sehen und zu hören, denn vor jeder Biegung wird auch noch schrecklich gehupt, um etwaig auf der Straße befindliche Tiere oder Kinder zu verscheuchen. Das Atmen wird immer schwerer, denn der feine Staub kommt auch durch die geschlossenen Fenster rein. Aufmachen darf man die sowieso nicht. Im Bus sitzen einige Rumänen – selbst bei der Hitze mit Schafpelz bekleidet – und schimpfen mit jedem, der für Frischluft plädiert. So sind die fünf oder sechs Haltestellen bis Martinsdorf die einzige Gelegenheit, wenigstens ein wenig Abkühlung zu erfahren.
Endlich – gegen 20.00 Uhr abends – letzte Station. Alle aussteigen, wir sind da, der Bus endet hier und fährt auch nicht zurück bis morgen früh. An der Haltestelle ein dichtes Gewimmel von Leuten, Kinder und große Leute, wer weiß, weswegen die alle da sind ? Ob die ihre Angehörigen abholen wollen ? Oder haben die gar Wind davon bekommen, dass da ein Fremder, einer aus dieser exotischen „DDR“ auftauchen soll ? Nach dem Motto: „Mal sehen, ob das auch richtige Menschen sind?" Bisher hatte man nämlich immer nur solche aus dem „richtigen Deutschland“ gesehen im Dorf. Und mitten im Getümmel ein kräftiger schwarzgelockter Mann, ganz leger im Unterhemd, man sieht ihm des Tages Arbeit noch an ... . Der spricht uns zielsicher an: „Ihr seid die Leute aus Hetzeldorf, ich bin gekommen, Euch abzuholen, herzlich willkommen. Ich bin der Hans-Onkel, der Vater von Anneliese. Kommt, wir gehen nach Hause !“ Noch drei- vierhundert Meter laufen und dann schauen, wer mich da eingeladen hat. Nun ist es also doch spannend geworden!!!
Wir durchschreiten ein Hoftor und betreten eines der üblichen Häuser. In der lichtdurchfluteten „Vorderen Stube“ - wir würden „Gute Stube“ dazu sagen, erwartet mich Anneliese. Ein wenig schüchtern – ich vielleicht auch – aber durchaus irgendwie vertraut, denn sie hatte mir ein wunderschönes Foto nach Leipzig geschickt.
Die Mutter sei noch auf dem Feld, der Bruder - auch Hans genannt, wie gefühlt jeder zweite dort – sei mit der Kuh unterwegs, die noch ein wenig grasen solle und die beiden Schwestern hätten sich erst mal „dünn gemacht“. Irgendwie waren sie misstrauisch gegenüber diesem „Exoten“. Wir sollten uns ruhig erst mal hinsetzen und sie würde derweil dafür sorgen, dass was auf den Tisch kommt. (Alles, außer Büffelrahm!) Nun, nach und nach bekomme ich die ganze Familie zu Gesicht und irgendwann am späteren Abend ist plötzlich die ganze Stube voller junger Leute. Man hat eine „Unterhaltung“ - wir würden Party dazu gesagt haben. Irgendeiner bringt ein „Casettophon“, also einen Kasettenrekorder mit und erstaunlicherweise die derzeit modernsten Schlager aus dem Westen. Mich wundert's, aber für meine neuen Freunde ist das selbstverständlich ... . Auch diese Nacht wird kurz.
Wir, Hans aus Hetzeldorf und ich, werden im Dorf ein wenig herumgeführt, wir wandern sozusagen durch die Felder, durch die Auen und die Tage sind wunderschön. Inzwischen sind auch Annelieses Geschwister aufgetaut und entpuppen sich als ganz lustige Gesellen.
Anneliese selbst findet jeden Abend eine frisch geklaute Blume auf dem Kopfkissen ihrer Schlafstatt und kann sich das nicht erklären. Ich werde irgendwie immer nachdenklicher und – ich weiß nicht wie – es gelingt mir zu bewerkstelligen, dass wir einen Tag lang allein mit dem Bus nach Hermannstadt fahren können. Ganz ohne Anstandswauwau. Ganz schön vertrauensvoll, die Eltern! Anne – so nenne ich sie inzwischen – will mir die Stadt und ihre Kantorenschule zeigen und wir verleben einen unbeschwerten Tag, nur wir zwei. Und dann, irgendwo in der Nähe der alten Stadtmauer kann ich nicht mehr anders: Ich muß sie fragen: „Kannst Du Dir vorstellen, mit mir nach Deutschland, das heißt, in diesen einen Teil davon, zu kommen und meine Frau zu werden? Viel kann ich Dir nicht bieten, aber gemeinsam können wir es schaffen, das glaube ich ganz fest!“ Und – was ich so nicht für möglich gehalten hätte: Sie sagt Ja! Ich glaube, an diesem Abend waren es zwei frisch geklaute Blumen auf dem Kopfkissen und nun wusste sie, warum... . Leider gehen die restlichen Tage wahnsinnig schnell vorbei, der Urlaub ist zu Ende, die Fahrkarte nach Leipzig gibt den Termin vor. Dieser Abschied ist gar nicht leicht, denn irgendwie wissen wir beide: Es wird eine ganze Weile dauern, bis wir uns wiedersehen können.
Aber bis dahin sind zwei Semester mit vielen vielen Vorlesungen Zeit, um Briefe zu schreiben. Manchmal zwei oder drei an einem Tag. Der Postbote in Martinsdorf schütteln nur ungläubig mit dem Kopf und verlangt Sonderzuschläge. Liebe macht auch erfinderisch, denn ab und an ist auch mal eine kleine Überraschung in einem der Briefe, ein Teebeutel, eine Tafel Schokolade oder auch mal ein Stück selbst besprochenes Tonband. Und bisweilen gibt es sogar ein Telefonat, auch wenn das viele Stunden Wartezeit braucht und man so in den Hörer brüllen muss, dass ganz Leipzig mithören kann ... .
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